Im Namen der Tochter

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Der folgende Artikel stammt aus der "Welt am Sonntag", Nr. 24, vom 11. Juni 2023

 


Text: Kevin Culina und Alexander Dinger, Fotos: Marlene Gawrisch

Vor acht Jahren verschwand in Sachsen-Anhalt die fünfjährige Inga Gehricke. Der Tag teilte das Leben ihres Vaters in ein Davor und ein Danach. Nun kommt neue Bewegung in den Fall – ein Anwalt und eine Politikerin werfen den Ermittlern schwere Fehler vor

An einem alten Baum hängt, etwas schief, das Foto eines Mädchens im Kindergartenalter. Inga Gehricke trägt darauf eine lilafarbene Jacke, der Wind fährt ihr durch die Haare. In der Hand hält sie ein Röhrchen mit Seifenblasen und schaut verträumt in die Kamera. An den Wurzeln des Baums liegen frische Blumen. Das Foto hat ein Mann an diesen Stamm gebunden, um an den Tag vor acht Jahren zu erinnern, der sein Leben
für immer verändert hat.

Der Mann ist Jens-Uwe Gehricke, 54 Jahre alt und Ingas Vater. Er will, dass
seine Tochter nicht vergessen wird. In sein müdes Gesicht haben sich scharfe Falten gegraben. Es erzählt von jahrelangen Kämpfen. Denn vor acht Jahren verschwand seine Tochter auf einem Fest, sie war damals fünf. Jener Tag teilte Gehrickes Leben, das seiner damaligen Frau
und das von Ingas drei Geschwistern in ein Davor und ein Danach.

Anfang Mai 2015 war das Mädchen von einem auf den anderen Moment verschwunden, in einem Waldstück bei Stendal, sachsen-anhaltische Provinz. Die Polizei durchkämmte mit Suchtrupps Wälder, unterstützt von Hubschraubern mit Wärmebildkameras. Die Ermittler ließen das Wasser aus Seen in der Umgebung abpumpen. Sie schickten Spürhunde in den Einsatz und verfolgten Geruchsspuren. Der Fall war wochenlang Thema in Fernsehnachrichten und Zeitungen. Bis heute haben die Ermittler 2216 Spuren zusammengetragen, 2203 davon ausgewertet. Ihre Ermittlungsakte hat Dutzende Unterordner. Konkrete Hinweise, wo das Mädchen sein könnte, hatten sie trotzdem nicht. Mit den Jahren versandeten die Ermittlungen. Und Jens-Uwe Gehricke verlor, nachdem er
seine Tochter verloren hatte, auch seine Ehe und ein Leben, in dem er 25 Jahre lang glücklich gewesen war.

Jedes Jahr werden in Deutschland rund 15.000 Kinder als vermisst gemeldet. Die meisten tauchen kurze Zeit später wieder auf, sagt das Bundeskriminalamt. Etwa 1700 Fälle sind seit Ende der 50er-Jahre unaufgeklärt geblieben. In manchen Fällen ergibt sich ab und an ein
neuer Hinweis, erinnert sich ein Zeuge an ein Detail, lässt eine neue Information die Dinge plötzlich in einem anderen Licht erscheinen. Die Eltern schöpfen noch einmal Hoffnung. Und die Polizei nimmt die Ermittlungen wieder auf. Immer wieder sind in den vergangenen Jahren
Fälle auf diese Weise doch noch gelöst worden.

Darauf hofft Jens-Uwe Gehricke. Auch den Fall seiner Tochter betrachten Ermittler noch einmal neu. Auf Anordnung der Landesregierung in Sachsen-Anhalt soll eine neunköpfige Ermittlereinheit aus Halle die Akten zu dem Fall noch einmal durcharbeiten. Auf einmal stellt ein Anwalt Fragen, die bisher kaum jemand gestellt hat, zumindest nicht so hartnäckig, so laut. Und im Landtag gibt es Politiker, die ähnliche Fragen haben. Der Verdacht steht im Raum, dass die Polizei wichtige Informationen übersehen oder missachtet hatte.

1. DER TATORT
Mai 2023. Der Wilhelmshof in der gleichnamigen Ortschaft ist eine Ansammlung von beigefarbenen und grau gewordenen Gebäuden. Etwa 100 Menschen leben dort, Suchtkranke und Menschen mit Behinderung, dazu Mitarbeiter der Diakonie. Es ist ein christlich geprägter Ort, ruhig, umgeben von Wald. Nur eine Straße verbindet diesen Hof mit dem Rest
der Welt. Zwischen einem alten Bauernhof und einer Handvoll Wohnhäusern gibt es ein Schwimmbecken und einen Kinderspielplatz. Die Sonne scheint, die Erdbeersträucher blühen, eine Frau setzt Tomaten in die Erde. Esel und Ponys tapsen auf einer großen Wiese. Hier fährt kein Auto, überall ist Platz. Zum Spielen, Rennen, Radfahren.

Am Rande des Hofs, auf einer Lichtung, gibt es einen Bolzplatz mit zwei
rostigen Fußballtoren, eine rote Holzhütte. „Villa Kunterbunt“ steht auf einem Aufkleber an der Tür. Von hier sind es etwa 100 Meter Entfernung bis zum ersten Wohnhaus des Wilhelmshofs. An diesem Bolzplatz haben Viktoria und Jens-Uwe Gehricke Inga, ihre jüngste Tochter, zum letzten Mal gesehen.

Jens-Uwe Gehricke kommt für ein Gespräch in ein Café im Berliner Tiergarten. Er will reden, es drängt ihn, die neuen Ermittlungen kratzen ihn auf. Aber er möchte irgendwo draußen sitzen. In engen Räumen, sagt er, fühle er sich schnell unwohl. Und dann beginnt er zu erzählen, von seinem Leben und dem seiner Familie. Er ist im Moment der Einzige von ihnen, der zu längeren Gesprächen mit Journalisten bereit ist.

Er verbrachte 20 Jahre seines Lebens in Schönebeck, einem kleinen Ort bei Magdeburg, weniger als eine Autostunde von Wilhelmshof entfernt. Er gründete dort eine Familie, wurde Vater von vier Kindern, Sozialarbeiter und ehrenamtlicher Stadtrat für die Linkspartei.

Als seine Tochter verschwand, musste er sich lange krankschreiben lassen. Er hielt den Schmerz und die Belastungen nicht aus. Auch seine Ehe hielt sie nicht aus. Gehricke sagt, seine damalige Frau, Mutter seiner Kinder, habe lange geglaubt, dass Inga noch lebt. Er dagegen sei früh davon ausgegangen, dass sie tot sei. Sie kannten sich seit ihrer Jugend.

Nun stellten sie fest, dass jeder mit seinem Schmerz letztlich für sich blieb. Sie schildert es ähnlich. Irgendwann, sagt Gehricke, habe er auch seine Heimat nicht mehr ausgehalten. Es gab dort zu viele Erinnerungen, die seinen Schmerz ständig fütterten. Vor sechs Jahren zog er nach Berlin auf der Suche nach einem neuen Leben, in dem ihn nicht jeder auf der Straße erkannte: den Vater einer vermissten Tochter.

Nun, im Café, zieht Gehricke ein laminiertes Foto aus seinem Rucksack, Format DIN A4. Seine Tochter in einer lilafarbenen Jacke, Wind in den Haaren, Seifenblasen in der Hand. Es ist das Foto, das er an den Baum am Ortseingang von Wilhelmshof gehängt hat. Sein Lieblingsbild von Inga. Weil sie darauf so glücklich aussehe und ihn das Foto an schönere Tage erinnere.

Gehricke sagt, seine Tochter sei neugierig gewesen, trotzdem zurückhaltend. Sie habe Tiere geliebt, die Natur. Die Familie sei oft draußen gewesen, viel unterwegs, am liebsten im Harz. Und Inga habe
Bücher gemocht. Jeden Abend habe jemand aus der Familie ein anderes vorlesen müssen. Und manchmal sei sie auch bockig gewesen, ein Dickkopf.

„Ich muss jeden Tag an sie denken“, sagt Gehricke. Noch oft liefen Momente seines heilen Lebens vor seinem inneren Auge ab wie ein Diavortrag. Die Familie, die in ihrem grauen Familienvan von Schönebeck zum Wilhelmshof fährt, vorn die Eltern, auf den Rücksitzen die vier Kinder, zwei Mädchen, zwei Jungen. Ihre Vorfreude. Die Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen, als sie in das Waldstück hineinfuhren, das den Hof umgibt.
Sie hatten ein Treffen mit zwei befreundeten Paaren verabredet, die sich
seit Jahren kannten, sechs Erwachsene, neun Kinder und Jugendliche. Eine der Familien lebte auf dem Hof.

Gehricke sagt, sie seien kaum aus dem Auto gestiegen, da seien die Kinder
schon miteinander ausgeschwärmt. Inga sei anfangs noch etwas schüchtern gewesen, wie so oft. Das Leben schien leicht zu sein. „Es war einer dieser Nachmittage, an denen man nicht auf die Uhr schaut“, sagt Gehricke.

Er schildert den Rest des Tages, als sei alles erst kürzlich passiert. Die Kinder hätten auf einer Wiese gesessen und Löwenzahn gepflückt. Seien auf dem Spielplatz gewesen, auf Stelzen oder mit Rasen-Skiern umhergelaufen. Am Nachmittag hätten die Familien Fußball gespielt. Es habe Eis gegeben für alle, Kaffee für die Eltern und am Abend ein Lagerfeuer. Also, sagt Gehricke, seien seine Familie und er länger geblieben als geplant. Als die Sonne unterging, hätten zwei Erwachsene eine Feuerschale geholt und zum Bolzplatz gebracht.

Inga, zwei Wasserflaschen in der Hand, sei ihnen hinterhergelaufen, auch
ihre Schwester. Er, der Vater, beobachtete sie aus der Entfernung.
Gehricke sagt, er habe damals noch gedacht, sein kleines Mädchen habe an den zwei großen Wasserflaschen schwer zu tragen. Dieses Bild, sagt Gehricke, habe sich in sein Gedächtnis gebrannt.

Er sah seine Tochter danach nie wieder.

Während seine beiden Töchter zur Feuerstelle liefen, habe er mit den
Freunden Kinderkleidung ausgetauscht, sagt Gehricke. Die Kinder seien so
schnell groß geworden. In dieser Zeit, davon ist Gehricke bis heute überzeugt, ging Inga verloren.

Aus den Aussagen mehrerer Zeugen schloss die Polizei damals, dass es an jenem Tag im Mai 2015 ein Zeitfenster von etwa 15 Minuten gab, in denen Inga verschwunden sein muss.

Es war Viktoria Gehricke, die ihre Tochter als Erste vermisste. Aus den Ermittlungsakten geht hervor, dass mehrere Augenzeugen sahen, wie Inga die Wasserflaschen am Bolzplatz abstellte. Dort sollen die Kinder gespielt
haben. Und die erzählten der Polizei, dass Inga dann zum Wilhelmshof
lief, zu den Wohnhäusern. Und der Freund, mit dem Jens-Uwe Gehricke
Kindersachen tauschte, will das Mädchen dort auch aus dem Augenwinkel
noch gesehen haben. Er wäre demnach die letzte Person, die Inga an diesem Tag gesehen hat. So steht es im Zwischenbericht der Ermittler.

„Wir haben sie sofort gesucht. Ich war zunächst auch der Meinung, dass sie wieder auftaucht“, sagt Gehricke heute. Auf die ersten 24 Stunden kommt es an, wenn die Polizei nach Vermissten sucht. Das sagen erfahrene Polizisten. Sei der erste volle Tag verstrichen, dann steige die Wahrscheinlichkeit stark an, dass ein Verbrechen schon passiert sein könnte. Und in den allermeisten Fällen kommen die Täter aus dem näheren Umfeld, aus der Familie, aus dem Freundeskreis des Kindes.

Die Polizei befragte damals auch den Vater, Jens-Uwe Gehricke. „Völlig logisch“, sagt Gehricke noch heute. Als tatverdächtig galten er und seine Familie nie.

An jenem Tag im Mai 2015 rannte seine Frau als Erstes zum Schwimmbecken. Und er, der Vater, spielte in seinem Kopf Möglichkeiten durch, wo Inga sein könnte. Sie kletterte doch so gern auf Bäume. Vielleicht saß sie auf einem Ast und ahnte nichts von der Aufregung und den Sorgen ihrer Eltern? Oder sie lief auf dem Hof einem Kater hinterher, den sie so liebevoll streichelte? Oder versteckte sich irgendwo im Gebüsch, aus dem sie jeden Moment belustigt hervorspringen würde?

„So war sie ja“, sagt Gehricke heute. Eineinhalb Stunden suchten die Eltern, die Freunde, die Kinder nach Inga. Um 20.13 Uhr rief die Familie, die auf dem Hof lebte, die Polizei. Die konzentrierte sich zunächst auf
den Wald. Wäre Inga dort gewesen, hätten die Suchtrupps sie in der Nacht auch schnell gefunden, glaubt Gehricke. Doch sie fanden nichts. Auch die Kollegen mit Hubschrauber und Wärmebildkameras nicht. Als am nächsten Morgen dann Beamte der Kriminalpolizei kamen, sagt Gehricke, sei klar gewesen, dass etwas passiert sein könnte.

Der Sonntag verging, der Montag, der Dienstag, der Mittwoch. Am Donnerstag fuhren Gehricke, seine Frau, seine drei anderen Kinder zurück nach Hause. Das sei der härteste Moment gewesen, sagt Gehricke. „Wir sind zu sechst hingefahren und zu fünft zurück.“

Fotos vom Tag ihres Verschwindens zeigen Inga Gehricke in einem hellblauen Shirt, ein großer Schmetterling ist vorne drauf, Rüschen an der Seite. Ihre blonden Haare sind zu zwei Zöpfen zusammengebunden,
die Schneidezähne fehlen.

2. DIE ERMITTLUNGEN
Zweimal im Jahr fährt Jens-Uwe Gehricke seither zurück nach Wilhelmshof. Im Mai, wenn sich jener Tag jährt, und im August, an Ingas Geburtstag. Er sagt, es fordere ihn jedes Mal heraus. Doch er brauche einen Ort, an dem er sich an seine Tochter erinnern kann. Der Baum, an
den er das Foto gebunden hat, schien ihm passend.

Es gab in all den Jahren keinen Prozess, keinen ernsthaften Tatverdächtigen und nichts sonst, das Jens-Uwe Gehricke auch nur eine Idee davon hätte geben können, was seiner Tochter passiert war. Also füllte sich sein Kopf mit hässlichen Gedanken, was Inga durchlebt haben
könnte, in den Nächten kamen die Albträume.

Das Mädchen schien von einem Moment auf den nächsten „wie aus dieser Welt gebeamt“. So sagte es der leitende Ermittler vor einigen Jahren in einem Interview mit dem „Stern“.

Gehricke sagt, die Monate nach dem Verschwinden seiner Tochter seien unerträglich gewesen. Die zunehmende Hoffnungslosigkeit habe ihn in ein dunkles Loch getrieben, er habe daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Er sagt, letztlich habe ihn der Gedanke abgehalten, dass er noch immer drei Kinder hatte, für die er da sein müsse. Irgendwann beschloss
er, dass er wenigstens erfahren wollte, wie seine Tochter starb. Denn davon ging er bald aus.

Die Polizei hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Inga zu finden.
Daran zweifelt Gehricke nicht, wie er sagt. Trotzdem liest er ständig in den Akten, auf der Suche nach Details, die die Ermittler oder er übersehen haben könnten. Und er hat Fragen.

Wenn in Deutschland ein Kind verschwindet, setzt die Polizei in aller Regel
schnell eine Maschine in Bewegung. So war es auch im Mai 2015. Suchtrupps, Spürhunde, Hubschrauber, Wärmebildkameras. Mehr als 1500 Personen halfen bei der Suche, darunter viele Freiwillige, Feuerwehr, Lebensretter. Im Wald keine Spur von Inga. Aber wieso, fragt sich Gehricke, sperrte die Polizei nicht den Hof? Auf der Anlage hielten sich mehr als 100 Anwohner auf, die unbemerkt vom Hof hätten fahren können. Auch mit Inga. Gehricke quält sich mit dem Gedanken, dass das Schlimmste da vielleicht noch zu verhindern gewesen wäre.

Menschen, die mit dem Fall vertraut sind, sagen dagegen: Eine Sperrung hätte nichts geändert. Die anderthalb Stunden, die verstrichen waren, bevor die Polizei den Notruf bekam, seien eine zu lange Zeit gewesen.
Das heißt, dass die nachvollziehbare Zuversicht der Erwachsenen, Inga werde schon wieder auftauchen, womöglich die Chance kostete, wichtige Hinweise und Spuren zu finden.

Später stellte sich heraus, dass die Ermittlungsgruppe „Wald“ anfangs unter Personalnot litt. Einige Beamte der Polizei in Stendal waren in neue Fachbereiche versetzt worden. Nach wenigen Wochen hatte es auch Gerede gegeben. Etwa, dass der Chefermittler neu aus Magdeburg kam. Ein „Fremdkörper“, wie ein Informant aus der Behörde sagte. Gehricke sagt, ihn hätten „Hellseher, Spinner, Mediengeile“ angerufen und Hilfe angeboten. Die erste Hoffnung seit langer Zeit schöpfte er, als kürzlich ein
Anwalt und eine Politikerin begannen, sich um den Fall zu kümmern.

3. DIE WENDUNG
Im April 2023 entschied Sachsen-Anhalts Innenministerin Tamara Zieschang von der CDU, dass Ermittler aus Halle die Akte des Falls neu untersuchen sollen. Dazu muss man wissen, dass Halle weit entfernt ist von Stendal, die neue Einheit also möglichst unabhängig von den Kollegen
arbeitet. In der Zwischenzeit hat zudem einer von Ingas Brüdern, inzwischen volljährig, den Berliner Anwalt Steffen J. Tzschoppe um Hilfe gebeten. Tzschoppe gilt als furchtlos. Er hat Aussteiger aus der Szene der Hells Angels vertreten, derzeit vertritt er den Rapper Bushido im Prozess gegen den Berliner Clanboss Arafat Abou-Chaker.

Tzschoppe sagt, von Ingas Bruder verlange er kein Honorar. Er sei selbst Vater, er fühle mit den Gehrickes. Zudem stamme auch er aus Sachsen-Anhalt wie sie.

Und was den Fall angeht, kenne er die Akten inzwischen gut. Es gebe längst einen Verdächtigen. Was es dazu zu wissen gebe, stehe auf insgesamt 1800 Seiten Papier. Nur leider seien die erst mit fünf Jahren Verspätung in die Ermittlungsakte aufgenommen worden. Und schlimmer
noch, vielen Beteiligten sei die komplette Akte noch bis Ende vergangenen
Jahres gänzlich unbekannt gewesen.

Damals versucht die Polizei in Stendal, das Verschwinden Inga Gehrickes
aufzuklären. Und in Berlin ermittelt die Polizei in einem Fall, der anfangs nichts damit zu tun zu haben scheint. Als sich das ändert, schicken die Berliner eine Kopie ihrer Akte nach Sachsen-Anhalt. Doch die Kollegen dort scheinen sie nicht sonderlich ernst zu nehmen. „Ich bin sprachlos über diese Vorgehensweise.“

So hat es Tzschoppe Anfang dieses Jahres auch in einem Brandbrief
an das Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt geschrieben.
Die Akte, die Tzschoppe meint, dreht sich um Martin H. Er stammt aus Stendal und ist den Behörden als psychisch kranker Straftäter bekannt. Im November 2015, ein halbes Jahr nach Ingas Verschwinden, nahmen Berliner Ermittler ihn in einem Verfahren wegen des Besitzes sogenannter Kinderpornografie fest.

Als sie ihn vernahmen, erzählte H. ihnen Dinge, die Tzschoppe schaudern lassen.

4. DER VERDACHT
Am Ortseingang von Lausigk, einem kleinen Ort in der Mitte Sachsen-Anhalts, steht die Ruine eines Hauses, in dem Martin H. sich seit 2013 unregelmäßig aufgehalten haben soll. So erzählen es Nachbarn. Demnach baute er das Anwesen nach und nach um. Baggerte einen unterirdischen Raum in den Garten, installierte eine Cannabis-Plantage. H. hielt zwischenzeitlich zwei Pferde auf dem Anwesen, Flocke und Susi. Einer
der beiden Namen steht bis heute an der Tür des alten Stalls, drum herum
ein Herz. Das weitläufige Grundstück dichtete H. mit grünen Planen gegen
neugierige Blicke ab. Im Mai 2017 brannte das Haus ab, die Polizei vermutete Brandstiftung.

Wen man in Lausigk auch fragt, niemand will H. näher gekannt haben,
auch seine Nachbarn nicht. Aber jeder kennt Geschichten, in Lausigk haben sich manche Gerüchte verselbstständigt.

Jemand habe Spuren beseitigen wollen, behaupten die einen. Andere
raunen, ein paar Bewohner hätten nach einem Dorffest einen Schandfleck des Orts beseitigen wollen.

Martin H. hatte eines der Zimmer in seinem Haus zu einem Verlies umgebaut. Man kann es noch heute erkennen. Die Fenster zur Straße sind zugemauert. Auf den Fensterscheiben kleben Gardinenstoffe. H. soll die Entführung eines Mädchens geplant haben. Das zeigen detaillierte Skizzen, die Ermittler bei Hausdurchsuchungen fanden.

An diesem Punkt kommt die Berliner Polizei ins Spiel. Denn Martin H. könnte eine Verbindung zwischen zwei Ermittlungen sein, die ursprünglich
nichts miteinander zu tun hatten. Die Berliner Polizei interessierte sich für
ihn, weil sie in einem Fall von Kinderpornografie ermittelte. Die Polizei in
Stendal versuchte, das Verschwinden von Inga Gehricke zu erklären.
Der Berliner Polizei hatte H. in einem Verhör erzählt, er habe mehrere Schulen in Berlin ausgespäht. Habe notiert, wo und wann er besonders „hübsche Mädchen“ sah. Die Ermittler durchsuchten sein Haus in Lausigk, eine Garage in Magdeburg, eine Werkstatt in Berlin. Sie fanden Puppen, die wie junge Kinder aussahen, Dildos. Auf seinem Rechner fanden sie Fotos und Videos von sexuellem Kindesmissbrauch.

Einen seiner digitalen Ordner hatte H. „XXXS“ genannt, eine Chiffre für „ganz, ganz klein“, wie er den Ermittlern erklärte. Er sagte, dass ihn besonders Bilder von Mädchen zwischen fünf und zehn Jahren interessierten.

„Klein, zierlich, niedlich, lange blonde Haare, Stupsnase.“ Allerdings sagte H. den Polizisten auch mehrfach: alles nur Fantasie, alles nur Theorie.
Heute heißt es aus höheren Sicherheitskreisen, dass der Täter im Fall Inga
Ortskenntnis gehabt haben musste. Sicher ist, dass H. die Gegend und den Wilhelmshof kennt, auch das Waldstück, in dem Inga Gehricke zuletzt gesehen wurde.

Er wuchs nur wenige Kilometer entfernt auf, am Stadtrand von Stendal. Im Nachbarort von Wilhelmshof war er mehrfach in psychiatrischer Behandlung. H. könnte mit Ingas Verschwinden zu tun haben, sagt der Berliner Rechtsanwalt Tzschoppe. Er sieht eine Menge schlüssiger Indizien. H.s Entführungspläne. Seine Fantasien, ein zierliches blondes Mädchen zu missbrauchen.

Und vor allem das, was H. einer Freundin kurz vor seiner Festnahme im November 2015 erzählt haben soll. Inga sei tot, die Polizei suche sie am falschen Ort. Außerdem habe H. davon gesprochen, dass Inga und andere Kinder sich stritten, als sie das Holz fürs Lagerfeuer sammelten. So hat es die Freundin bei der Polizei ausgesagt.

Martin H. kann sich das ausgedacht, mithilfe von Medienberichten zurechtgelegt haben. Zum Beispiel, um sich wichtigzumachen. Als die Berliner Beamten H. im Herbst 2015 vernahmen und ihn auch nach Inga Gehrickes Verschwinden fragten, bestritt er, damit irgendetwas
zu tun zu haben. Als Alibi gab er an, Zeit mit seiner Freundin und einem
Freund verbracht zu haben. Während einer der Vernehmungen sprang er
aus einem Fenster, aus dem ersten Stock.

Die Polizei sprach von einem Suizidversuch, H. überlebte verletzt. Was ihn dazu trieb, ist nicht klar.

All das ist in der 1800 Seiten starken Akte vermerkt, von der der Anwalt
Tzschoppe sagt, die Ermittler in Stendal hätten sie bis vor wenigen Monaten nicht ernst genommen. Tatsächlich wird H. in einem Zwischenbericht aus dem Jahr 2016, also dem Stand nach vielen
Monaten Ermittlung, nicht einmal erwähnt.

Die Erkenntnisse aus Berlin waren den Ermittlern zu diesem Zeitpunkt
aber bekannt. Ein erfahrener früherer Polizeibeamter, der den Fall im Auftrag Tzschoppes untersuchte, schreibt in einem eigenen Bericht, 19 Seiten lang, dass H.s Alibi konstruiert wirke. Zudem spreche vieles, zum Beispiel die Detailtiefe seiner Pläne, dafür, dass H. nicht einfach fiktive Taten durchspielte, sondern mit der Absicht, sie auch umzusetzen. So habe er etwa darauf geachtet, dass die Ortung seiner vielen Handys ausgeschaltet sei, damit keine Daten verrieten, wo er sich aufhielt.

H.s Anwältin ließ eine Bitte dieser Zeitung um ein Gespräch unbeantwortet.

Die zuständige Staatsanwaltschaft Stendal hält Martin H. nicht für tatverdächtig. Er sei mehrmals ausführlich vernommen worden, sagt der Staatsanwalt Thomas Kramer. „Dabei sind in Absprache mit der Polizeiinspektion Stendal auch Fragen zum Komplex Inga abgearbeitet worden.“

Auch Fragen zum Komplex Inga also. Die Formulierung wirkt spitzfindig.
Denn zur Wahrheit gehört, dass die Ermittler sich zu diesem Zeitpunkt
auf mutmaßliche Drogendelikte und den Verdacht konzentrierten, dass H. sogenannte Kinderpornografie besaß. Nicht auf das vermisste Mädchen.

So haben es die Recherchen dieser Zeitung ergeben. Die neuen Ermittler
aus Halle äußern sich vorerst gar nicht, sie verweisen auf die Untersuchungen.

Wie nichts anderes auf der Welt, sagt Jens-Uwe Gehricke im Berliner Tiergarten, wolle er erfahren, was mit Inga passierte. Aber er hoffe, dass H. nicht der Täter sei. Gehricke kannte H.s Haus und Anwesen in Lausigk, bevor es abbrannte, aus den Medien. Es soll nicht der letzte Ort gewesen sein, den sein Kind sah.

5. EIN POLITISCHES NACHSPIEL
Anfang Mai 2023. Jens-Uwe Gehricke sitzt auf einer Besuchertribüne im Magdeburger Landtag. Der Innenausschuss tagt. Es geht um die Frage, ob die Polizei sich im Fall Inga Versäumnisse leistete, die eine Untersuchung erfordern. Nicht nur, was den Verdächtigen angeht. Es ist die zweite Sitzung, eine dritte soll bald folgen. Manche Abgeordnete hoffen, dass ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss die Sache noch aufarbeiten
wird. Die Linke hat ihn beantragt.

Henriette Quade von der Linkspartei ist eine von ihnen. Es gebe ernst zu
nehmende Hinweise, dass die Ermittler nicht alle Möglichkeiten genutzt hätten, sagt auch sie. Sie fragt, blickt auf Details, hakt wieder und wieder nach. Als Quade aus der Ermittlungsakte zitiert, gibt es Streit im Landtag. Woher sie das alles wisse, fragen Kollegen anderer Fraktionen. „Ich habe einfach nachgefragt“, antwortet Quade.

Auf der Besuchertribüne sind Ingas Eltern ungehalten. „Sie war die Einzige, die je gefragt hat“, sagt Viktoria Gehricke. „Die Einzige!“, sagt auch der Vater. Die ewige Frage, was ihrer Tochter zustieß, die ungeklärten Umstände sind für die Eltern das eine. Das andere ist das Gefühl, mit ihren Fragen, ihrem Unglück und den Zweifeln zunehmend
alleine zu sein. Es hilft ihnen deshalb, dass Politiker und Anwälte ihnen den Eindruck vermitteln, zuzuhören und sich für sie einzusetzen.

Als die Sitzung vertagt ist, verlässt Jens-Uwe Gehricke die Tribüne. Er wirkt
niedergeschlagen, müde. Der Umgang mit den offenen Fragen ist ihm zu halbherzig.

Er will Klarheit. Aber der Untersuchungsausschuss wird vorerst kaum
zustande kommen, und er ist unsicher, ob er selbst ihn überhaupt will. Das politische Klein-Klein, sagt Gehricke, werde ihm seine Tochter nicht zurückbringen.

„Ich will endlich trauern.“ Der zuständige Staatsanwalt sagt, es sei nicht absehbar, wann die Ermittler aus Halle ihre Untersuchungen abgeschlossen hätten. Sie verfolgten derzeit 13 Spuren.

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Kommentare: 8
  • #1

    ella (Dienstag, 18 Juli 2023 12:56)

    von herzen wünsche ich euch, dass endlich alles aufgeklärt wird. und inga und ihre familie frieden findet. �

  • #2

    Sebastian (Donnerstag, 20 Juli 2023 13:17)

    Ich hatte kurz nach dem Verschwinden bei der Polizei in Stenadal angerufen und gesagt das evtl. solche Leute wie Epstein damit zu tun haben könnten.

    Leider wurde ich nicht ernst genommen. Man sollte hier nichts ausschliessen nur aus politischer Korrektheit.

  • #3

    Melanie (Montag, 21 August 2023 02:32)

    @Sebastian
    Du rufst da an und sagst das Epstein damit zu tun haben könnte...
    Und wunderst dich ernsthaft das du nicht ernst genommen wirst??
    Klar, klingt plausibel das der Typ von den USA aus,in nem Mini Dorf am Ende der Welt ein Kind verschleppen lässt von ner Familienfeier.

    Lass dich untersuchen, du hast echt nicht alle Latten am Zaun!
    Wenn nur so Irre wie du anrufen ist es kein Wunder wenn kein vernünftiger Hinweis dabei ist.

  • #4

    Carolin (Sonntag, 03 September 2023 16:05)

    Liebe Familie Gericke, ich wünsche Ihnen weiterhin ganz viel Kraft das Geschehene durchzustehen. Ich bin selbst Mama einer 4-jährigen. Ich bin unsagbar traurig darüber das ihr Kind einfach spurlos verschwunden ist. Das Schlimmste was Eltern passieren kann. Ich wünschte man könnte die Zeit zurückdrehen und ihr Kind retten. Alles Liebe und Kraft wünscht Familie Guzy

  • #5

    Max (Mittwoch, 29 November 2023 02:22)

    Have Enhanced Victim Recovery Dogs been used in the search? If not it's worth considering it. Even in housefires EVR Dogs can sometimes find a victim. I would say the sooner the better in terms of starting a new search. It might turn up new things.

    My sincerest condolences.

  • #6

    Marion (Samstag, 16 Dezember 2023 17:05)

    Ein sehr interessanter Text zu einem mysteriösen Vermisstenfall, der für mich als Mutter die Einstufung unerträglich hat. Das Verbrechen an Inga ist von jemandem begangen worden, der sich dort entweder bereits aufhielt und das Mädchen ausspähte und zudem motorisiert war oder nach der Tat in einem der Häuser versteckte, oder Kontakte dort hatte und wusste dass viele Kinder herkommen würden und sich darauf vorbereiten konnte. Haben Mitglieder der Familie, die dort wohnt, von dem anstehenden Besuch mit Kindern vorab Personen erzählt?
    Das Gelände ist viel zu abgelegen. Dann das kleine Zeitfenster von nur 15 Minuten. Und es war hell. Die Tat hat auch vor Ort nicht stattfinden können.
    Es wären ganz andere Szenarien denkbar, wenn das Kind nicht verschwunden wäre. Doch dadurch, dass Inga wirklich wie weggebeamt ist, komme ich immer wieder auf den Gedanken, dass das geplant war oder zumindest sehr durchdacht und nicht zur falschen Zeit am falschen Ort. Da war niemand zufällig. Da wusste jemand, dass an diesem Tag kleine Kinder kommen. Sind sonst Kinder auf dem Gelände im Alter von Inga? Viele Fragen. Wenn bei Martin H. keine Fotos von Inga gefunden wurden, glaube ich nicht, dass er es war. Seine sämtlichen Datenträger wurden sicher überprüft. Es muss jemand aus dem nahen Umkreis sein, der einen Bezug zum Wilhelmshof hat und ein Auto. Oder jemand deckt jemanden, um das Anwesen zu schützen … Alles Spekulationen. Ich wünsche den Gehrikes, dass sie erfahren, was mit ihrer kleinen Tochter geschehen ist!

  • #7

    Nina (Dienstag, 13 Februar 2024 21:06)

    Ich wünsche der Familie gehricke nur das beste ich hoffe und bete auch jeden Tag das inga noch lebt und ihrer Familie endlich wieder in due Arme schließen kann es macht mich sooo unendlich traurig � dieser Fall inga wird auch mich immer begleiten denn so ein unschuldiges kleines Mädchen man weiß bis heute nicht was passiert ist ich fühle mit der Familie ich denke sehr oft an inga wir gehen die Hoffnung für inga nicht auf

  • #8

    Stefan Blaszkowski (Dienstag, 12 März 2024 23:46)

    Ich bin dem Tatverdächtigen im Mordfall Inga vor der Entführung begegnet.